«Viele von uns in Haiti leben nicht, wir überleben.»

Haiti hat in den letzten Jahren mit dem Erdbeben der Stärke 7.0 im Jahr 2010, dem Hurrikan Matthew 2016 und der Choleraepidemie viele humanitäre Krisen durchlebt. Die politische Instabilität und Unruhen verschlechtern die Lage im Land zusätzlich. Trotz jeglicher Rückschläge nimmt die Gesundheitsversorgung ab und die psychische Gesundheit der Bevölkerung wird weiter vernachlässigt. Spitäler waren bereits vor dem Covid-19 ausgelastet und sind nun aufgrund der Pandemie kollabiert. Psychologische Hilfe ist für die Mehrheit der Bevölkerung unzugänglich: über die Hälfte der haitianischen Bevölkerung verdient weniger als 2.41 Dollar pro Tag – im Vergleich kostet eine einstündige Beratung bei einem Psychologen mindestens 50 Dollar.

In Haiti war Gewalt gegen Frauen bereits vor der Pandemie verbreitet, jedoch nahm diese aufgrund des Lockdowns alarmierend zu. Médecins Sans Frontières führt seit 2015 eine Klinik für Opfer sexueller Gewalt in Port-au-Prince und hat in den ersten vier Monaten dieses Jahres die meisten Fälle sexueller Gewalt seit der Eröffnung der Klinik registriert. Da sie oft im gleichen Haushalt wie ihre Missbraucher wohnen, können Opfer sexueller Gewalt während des Lockdowns nirgends Zuflucht finden. Eine junge Frau erzählt, sie nahm vor Corona-zeiten am Programm im Youth Center des YWCA teil, welches jährlich 150 Mädchen aus Port-au-Prince Nachhilfeunterricht und Workshops zu Themen wie Selbstachtung, Gesundheit, geschlechterspezifische Gewalt und Rechte anbietet. Sie wohnt mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater, von dem sie sexuell missbraucht wird, zusammen und ist sie seit dem Lockdown auf sich allein gestellt. «Wegen der Quarantäne muss ich zu Hause bei diesem Monster bleiben,» sagt sie, «viele von uns in Haiti leben nicht, wir überleben.»

Aufgrund der Pandemie bleiben Kliniken und Zentren geschlossen, die als Zufluchtsort für viele galten. Das Zentrum von YWCA Haiti gehörte auch dazu und bot einen sicheren Ort für Mädchen und junge Frauen. Das Team von YWCA Haiti bot den Programmteilnehmerinnen auch während dem Lockdown psychologische Unterstützung am Telefon und hielt regelmässigen Kontakt mit ihnen. «Wir haben schlicht nicht die Möglichkeit, uns mit unseren Traumen auseinanderzusetzen, weil wir schon so viel durchgemacht haben», kommentiert Laetitia Degraff, Projektleiterin und Psychologin des Zentrums von YWCA Haiti. Corona stellt nur eine von vielen Herausforderungen dar in Haiti. Das Zentrum von YWCA Haiti wurde inzwischen mit dem alljährlich stattfindenden Summercamp wiedereröffnet. Erst jetzt werden die Auswirkungen des Lockdowns auf die psychische Gesundheit der Mädchen und jungen Frauen des Programms richtig sichtbar und können gezielt adressiert werden.

Quelle: The New Humanitarian, Juli 2020

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